Prozessfähigkeitskenngrößen für kontinuierliche Qualitätsmerkmale

Teil 2: Prozessfähigkeitsermittlung bei nicht definierten Verteilungsmodellen

Inhaltsverzeichnis

  • Motivation
  • Die Vorgehensweise
    • Bestimmung Merkmalsart
    • Annahme des Verteilungsmodells
    • Ermittlung Fähigkeitsindizes
  • Anwendungsbeispiel
  • Eine wichtige Erkenntnis

Motivation

Die Bestimmung und Beurteilung der Maschinenfähigkeit bzw. der Prozessfähigkeit ist ein mehrstufiger mathematischer Prozess. Welche Schritte und mathematische Gleichungen angewendet werden müssen, ist im besonderen Maße von dem definierten Verteilungsmodell abhängig. In Teil 1 unseres Artikels zum Thema Prozessfähigkeit wurde als Verteilungsmodell die Gauß’sche Normalverteilung vorausgesetzt. Eine Voraussetzung, die sich in der Praxis eher selten widerspiegelt. Und tatsächlich führt die Anwendung der einfachen mathematischen Gleichungen für dieses Szenario häufig zu Ergebnissen, die in die falsche Richtung zeigen.

In diesem Artikel soll nachfolgend erörtert werden, wie die Vorgehensweise ist, wenn sich die angenommene Hypothese einer Normalverteilung nicht bewahrheitet. Die IST-Verteilung beliebig ist, also ein verteilungsfreies Modell vorliegt. In diesem Artikel fokussieren wir uns auf die Bestimmung der Prozesskennwerte für tolerierte, geometrische Größen.

Die Vorgehensweise

Die Ermittlung der Fähigkeitsindizes für Maschinen und Prozesse untergliedert sich in die nachfolgenden dargestellten Teilschritte (Abb. 1), auf die im Weiteren noch eingegangen wird.

Abbildung 1: Schritte zur Ermittlung von Fähigkeitsindizes

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Bestimmung Merkmalsart

Mit der Merkmalsart wird erfasst, in welcher Art und Weise Abweichungen auftreten können. Grundsätzlich unterscheidet man bei der Merkmalsart unter zwei Typen:

  • Merkmale mit beidseitigen (zweiseitigen) Abweichungen
  • Merkmale mit einseitigen Abweichungen

Diese Typisierung steht im direkten Zusammenhang mit der Tolerierung und so spricht man in Analogie dazu auch von:

  • beidseitig tolerierten Merkmalen
  • einseitig tolerierten Merkmalen

Beidseitig tolerierte Merkmale

Als beidseitig tolerierte Merkmale bezeichnet man solche, bei denen man die Zu- oder Abnahme des Istmaßes gegenüber dem Nominalwert eindeutig zuordnen kann. Also eindeutig beschreiben kann, ob ein Wert größer oder kleiner geworden ist. Dies ist bei den sogenannten Zweipunktmaßen möglich, die in der DIN EN ISO 14405 auch als solche bezeichnet werden (Abb. 2). Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von Größenmaßen gesprochen. In der Praxis stehen diese Zweipunkt- oder Größenmaße für „±“-tolerierte Maße, wie man sie vor dem Einzug der geometrischen Produktspezifikation (GPS) recht häufig auf Zeichnungen gesehen hat. Wegen der in vielen Anwendungsfällen fehlenden Eindeutigkeit der Eintragung sollten solche Zweipunktmaße nur an zulässigen Stellen verwendet werden. Welche Stellen das sind und in welcher Form die Eintragungen möglich sind, darüber gibt die DIN EN ISO 14405 Auskunft.

Abbildung 2: Lineare Größenmaßelemente vom Typ Zylinder und planparallele Ebenen (Quelle: DIN EN ISO 14405)

Auch bei einzelnen Form- und Lagetoleranzen, bei denen die Toleranz in Relation zu einem definierten Bezugssystem gesetzt ist, ist die eindeutige Zuordnung von plus und minus der Abweichungen möglich. So können auch solche Merkmale als beidseitig toleriert interpretiert werden.

Abbildung 3: Linienformtoleranz mit Bezug als beidseitig toleriertes Merkmal (Quelle: DIN EN ISO 1101)

Einseitig tolerierte geometrische Merkmale

Vereinfacht kann man sagen, dass alle nicht beidseitig tolerierten Merkmale einseitige Merkmale sind. Entstanden ist diese Merkmalskategorie mit der Erkenntnis, dass bei bestimmten Merkmalen die Abweichungen keinen Wert kleiner als Null annehmen können. Für diese Merkmale existiert somit eine natürliche untere Grenze von „Null“.

Als exemplarisches Beispiel könnte man die Ebenheit nennen (Abb. 4). Es ist sofort einsichtig, dass eine perfekte Ebene eine Abweichung von null hat. Weicht sie nun von der Perfektion ab, so hat diese eine Abweichung. Weil diese Abweichung jedoch in keiner Weise in Relation zu einem Bezug steht, kann ihr auch kein Vorzeichen in Form von plus oder minus zugeordnet werden. Was sollte eine negative Ebenheitsabweichung darstellen? Wie sollte Sie sich von einer positiven unterscheiden? Diese Differenzierung ist nicht möglich und man kann nur den vorzeichenfreien Betrag der Abweichung benennen. Daher auch die Bezeichnung Betragsverteilung.

Zusammenfassend gilt für einseitig tolerierte geometrische Merkmale:

  • Natürliche untere Grenze von null
  • (Vorzeichenfreier) Betrag der Abweichungen

Abbildung 4: Ebenheit als einseitig toleriertes Merkmal (Quelle: DIN EN ISO 1101)

Diese Abhängigkeiten gelten im Grunde für alle Form- und Lagetoleranzen mit Ausnahme derer, bei denen über die Relation zu einem definierten Bezugssystem die eindeutige Zuordnung von plus und minus der Abweichungen möglich ist.

Annahme des Verteilungsmodells

Wie schon angedeutet, ist das Verteilungsmodell von grundlegender Bedeutung für die richtige Bestimmung der Maschinen- bzw. Prozessfähigkeit. Damit schließt sich die Frage an, nach welchen Kriterien das Verteilungsmodell gewählt wird?

Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die vorhergehend thematisierte Merkmalsart. Für beidseitig tolerierte Merkmale trifft man die Grundannahme, stellt also die Hypothese auf, dass die Abweichungen normalverteilt auftreten. Bei einseitig tolerierten Merkmalen dagegen wird die Hypothese aufgestellt, dass die Abweichungen betragsverteilt zu erwarten sind. Grundsätzlich handelt es sich bei den Betragsverteilungen um einseitig, schiefe Verteilungen (z.B. Rayleigh-Verteilung), die in unserem Kontext noch in Betragsverteilung 1. und 2. Art unterschieden werden. Diese Differenzierung resultiert aus der geometrischen Ausprägung der Abweichungen. Hat diese nur eine Ausprägungsrichtung, wie zum Beispiel bei der Ebenheit (orthogonal zum Formelement), wird diesem Merkmal die Betragsverteilung 1. Art zugeordnet. Bei zweidimensionaler Variationsrichtung, zum Beispiel die Position einer Bohrungsmittelachse (planar in X- und Y-Richtung), ist die Zuordnung der Betragsverteilung 2. Art für das Merkmal richtig.

Zusammenfassend:

  • Beidseitig tolerierte Merkmale: Annahme der Normalverteilung
  • Einseitig tolerierte Merkmale: Annahme der Betragsverteilung (1. und 2. Art)

In der weiteren Betrachtung beschränken wir uns auf ein beidseitig toleriertes Merkmal und wollen thematisieren, wie man vorgeht, wenn sich die hypothetisch angenommene Normalverteilung in den Messwerten nicht widerspiegelt.

Statistische Tests

Im Verlauf von Maschinenfähigkeitsuntersuchungen (MFU) und Prozessfähigkeitsuntersuchungen (PFU) werden unterschiedliche statistische Tests ausgeführt. Welche Tests es konkret sind, ist von unterschiedlichen Dingen abhängig. Dort können unternehmensspezifische Belange eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Frage danach, ob ein Trend in den Werten von Belang ist. Aber auch das gewählte Verteilungsmodell beeinflusst die Wahl der potenziell möglichen Tests. Der χ2-Test ist zum Beispiel geeignet, um zu überprüfen, ob eine Stichprobe der angenommenen Normalverteilung entspricht.

Das Ziel der statistischen Tests ist es, mehr Klarheit über die Qualität und Zusammensetzung der Messwerte (Stichprobe) zu bekommen. Sie sind darüber hinaus eine notwendige Voraussetzung, um die Fähigkeitsindizes vom Maschinen und Prozessen richtig bestimmen zu können. Typische Ergebnisse sind:

  • Kenntnisse über Ausreißer
  • Kenntnisse über die Zufälligkeit der Werte
  • Kenntnisse hinsichtlich Trends in den Werten
  • Kenntnisse über die Verteilung

Ermittlung Fähigkeitsindizes

Häufig werden zur Beurteilung der Fähigkeit und Beherrschung von Prozessen die beiden nachfolgenden Gln. (1) und (2) herangezogen (siehe Prozessfähigkeit – Teil1: Beidseitig tolerierte, normalverteilte Merkmale).

          (1)

          (2)

 

In den beiden Gleichungen ist mit OSG die obere Spezifikationsgrenze anzugeben, welche am Einzelmaß dem Höchstmaß Go entspricht und mit USG ist die untere Spezifikationsgrenze anzugeben, welche am Einzelmaß dem Mindestmaß Gu entspricht.

Das Symbol „Dach“ über dem Cp bzw. Cpk kennzeichnet, dass es sich hierbei um einen Schätzwert handelt und nicht um die Grundgesamtheit. Häufig wird in der Praxis das Dach-Symbol vernachlässigt.

Die beiden Gln. (1) und (2) dürfen jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen angewandt werden:

  1. Wenn ein beidseitig bzw. zweiseitig toleriertes Merkmal vorliegt, z.B. ein Längenmaß oder ein Durchmesser.
  2. Wenn für die auszuwertenden Messwerte mittels eines statistischen Tests, z.B. durch den χ2-Test, eine Normalverteilung nachgewiesen wurde.

Trifft die 2. Voraussetzung an einem beidseitig tolerierten Merkmal nicht zu, so muss „verteilungsfrei“ nach der Spannweitenmethode ausgewertet werden.

Aus der Praxis ist bekannt, dass nur ein einstelliger prozentualer Anteil von beidseitig tolerierten Merkmalen tatsächlich einer Normalverteilung entsprechen [siehe auch DIN ISO 22514: Statistische Methoden im Prozessmanagement – Fähigkeit und Leistung mit ihren zahlreichen Teilen 1 bis 8]. Dies führt mit Anwendung der beiden Gln. (1) und (2) dann zu falschen Ergebnissen.

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Anwendungsbeispiel

In dem nachfolgenden Beispiel soll ein beidseitig toleriertes Merkmal, konkret die Breite (Längenmaß) einer Führungsleiste, hinsichtlich der Fähigkeitsindizes Cp und Cpk bewertet werden.

Die tolerierte Führungsleistenbreite ist nach Zeichnung:

20 ± 0,05 mm

Hieraus resultieren die beiden Grenzmaße, welche gleichsam den Spezifikationsgrenzen entsprechen.

Go = OSG = 20,05 mm

Gu = USG = 19,05 mm

Die Forderungen an die Fähigkeitsindizes sollen sein:

Cp > 1,33 und Cpk > 1,33

Eine Vermessung von 125 Führungsleisten ergibt folgenden Werteverlauf der Einzelwerte (Abb. 5):

Abbildung 5: Werteverlauf der Einzelwerte für 125 Messwerte der Führungsleistenbreite (aus simQS)

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Im Zuge der Bewertung ergibt sich, dass die erwartete Normalverteilung für die 125 Istwerte nicht zutrifft. In Folge dessen wird die Auswertung gemäß der Spannweitenmethode vorgenommen. Welche Gleichungen und konkreten Ergebnisse bei der Bewertung dieses Beispiel zum Tragen kommen, finden Sie detailliert zum Download in unserem Downloadbereich.

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Eine wichtige Erkenntnis

Die Wahl der richtigen Auswertemethode hat einen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse und somit auch auf die Aussagen, inwieweit eine Maschine oder Prozess fähig und beherrscht ist.

Folgende Unterschiede in den Ergebnissen ergeben sich bei diesem konkreten Beispiel:

Die Wahl der falschen Auswertemethode basierend auf der Annahme, dass ein beidseitig toleriertes Merkmal in jedem Falle normalverteilt in seinen Istwerten (Messwerten) auftritt, führt hier zu der falschen Aussage, dass der Prozess fähig (Cp > 1,33) und bedingt beherrscht (1,00 < Cpk < 1,33) sei. Somit suggerieren die Ergebnisse zunächst eine gewisse Sicherheit und Entwarnung.

Richtig ist, dass der vorliegende Prozess sehr eindeutig weder fähig (Cp < 1,33) noch beherrscht (Cpk < 1,33) ist.

Ahnliche Einträge

 

Quellen

  • DIN ISO EN 1101
  • DIN ISO EN 14405